Eisblume

Gedichte und Geschichten

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Eisblume

 

Er kann sich nicht mehr erinnern, wie lange er schon vor dem Fenster sitzt.

In Wahrheit will er sich nicht erinnern. 

Denn im Vergessen liegt viel Tröstliches. 

Seine Gedanken reisen, wie so oft an diesen Tagen vor Weihnachten in die Vergangenheit. 

Nur selten bleiben sie für Sekunden in der Gegenwart hängen. 

Nie bleiben die Gedanken lange genug im Heute, um Fragen beantworten zu müssen.

In Wahrheit ist es ihm auch vollkommen egal, wie lange er in diesem Zimmer und vor diesem Fenster sitzt.

Stunden? 

Tage?

Wenn er die Gegenwart streift, fühlt er, wie kalt ihm ist. Dann zieht er sich noch tiefer in den Ohrensessel zurück. 

Schnell kehren die Gedanken in die Tage seiner Jugend zurück.

 

Es hat den Anschein, als wolle ihn dieses monströse Stück von einem Sessel verschlingen. Doch nicht in böser Absicht.

Es sieht eher aus wie die tröstende Umarmung eines guten Freundes.

Er wirkt klein und verloren in diesem Sessel. 

In seiner Jugend war er ein großer, stattlicher Mann. 

Doch das Alter forderte seinen Tribut. 

Es scheint, als wäre er auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe geschrumpft.

Er lächelt bei diesem Gedanken. 

Überhaupt lächelte er viel, wenn er an die Zeit zurückdachte, in der er vor Kraft und Energie nur so strotze.

Deshalb reist er in der Erinnerung so gerne in die Tage seiner Jugend.

Damals, ja damals war so vieles so viel einfacher gewesen als heute. 

In diese hektische Zeit, in die er nicht mehr gehört.

Er vermisste auch vieles aus der Zeit seiner Jugend. 

Seine Familie, seine Freunde. Das Zwitschern der Vögel im Garten. 

Er kann sich gar nicht mehr erinnern, wann zum letzten Mal ein Vogel vor seinem Fenster sang. 

Die Stadt war groß geworden und die Vögel sind weiter gezogen.

So sind auch die Vögel in der Zeit verschwunden. 

Vieles aus der Vergangenheit schien in der Zeit verloren gegangen zu sein.

Nicht laut und nicht mit großem Getöse. 

Sondern still und unmerklich waren all die Kleinigkeiten verschwunden und durch neuere, modernere Dinge ersetzt worden.

Oder sie sind einfach überflüssig geworden. 

Natürlich vermisste er den Nachttopf unter dem Bett nicht wirklich. 

Eine Toilette in der Wohnung ist ein enormer Fortschritt gegenüber einem gemeinschaftlichen Plumpsklo am Gang. 

 

Doch er vermisste den Geruch von Fensterkitt. 

Ja, diesen Geruch vermisste er. 

Der Gedanke an frischen, weichen Fensterkitt lässt ihn schmunzeln.

Mit den Fingern rollte man ihn zu Kügelchen, die sich dann wunderbar durch ein Blasrohr auf die Hinterbacken der anderen Jungs abfeuern ließen.

Kurz kehren seine Gedanken in das Heute zurück. Er schaut auf das moderne Fenster in seinem Zimmer. 

Hier gibt es keinen Fensterkitt mehr. 

Das ist schade, doch er bezweifelte, ob seine von Artrose verbogenen Finger noch imstande wären, diese Kügelchen zu formen, die man für einen gezielten Schuss benötigte. 

Auch fehlten ihm ein Blasrohr und vor allem ein lohnendes Ziel. 

Seine Lungen hätten auch nicht mehr die Kraft für einen Schuss. 

Doch der Gedanke daran ließ ihn lächeln.

Die neuen Fenster bestehen aus Kunststoff, Gummidichtungen und Dreifachverglasung. 

Natürlich halten diese Fenster die Kälte besser draußen, als die alten, einfachen Scheiben, die man mit Fensterkitt im Rahmen befestigte. 

 

Mittlerweile ist es sehr kalt im Zimmer geworden. Aber der alte Mann spürt die Kälte nur wenig. Er zieht sich tiefer in seinen mit ihm alt gewordenen Sessel zurück.

Hat er eingeheizt? 

So angestrengt er auch nachdachte, er kann sich nicht mehr erinnern, ob er den Heizkörper aufgedreht hat.

Eine praktische Erfindung diese Heizkörper.  Eine kurze Drehung und es wird warm im Zimmer. 

Doch er ist überzeugt, dass die Wärme die sein alter Holzofen abgegeben hatte, jetzt viel gemütlicher wäre.

Aber in letzter Zeit verzichtet er immer öfter auf die Heizung.

 

Während er weiter wartet und aus dem - nein  - in das Fenster sieht, reisen seine Gedanken wieder in die Vergangenheit zurück.

In jene Zeit, als er seine Frau kennen und lieben lernte. Wie sie damals jung und unbeschwert wie sie waren, die Herausforderungen des Lebens annahmen. 

Als sie, ohne groß nachzudenken, eine Familie gründeten. Als sie gemeinsam mit ihren Kindern erwachsen wurden. 

Eine Träne stiehlt sich in sein Auge, als er sich an seine Frau erinnerte, die ihn erst vor kurzem für immer verlassen hat.

Sie ist ihm nun doch vorausgegangen. 

Er war immer felsenfest überzeugt, dass er derjenige sein wird, der als Erster die letzte Reise antritt. Doch nun hat sie ihn alleine zurückgelassen.

Die Erinnerung daran, dass seine Frau Eisblumen liebte, kommt plötzlich und unerwartet.

Wie sie sich lange und ausführlich darüber beschwerte, dass mit dem Einbau der neuen Fenster auch die Eisblumen verschwanden.

Sein Argument, dass es in der Wohnung jetzt wärmer und gemütlicher ist, hatte sie verächtlich beiseitegeschoben.

 Sie erklärte ihm, dass sie die Eisblumen eben deshalb vermisste, weil diese sie an ihre Kindheit erinnerten.

 

Er hörte ihre Stimme in seinen Gedanken, ganz so als ob sie neben ihm stünde. 

Die Träne verließ den Augenwinkel und bahnte sich ihren Weg über die faltige Wange.

Er vermisste sie. 

Vermisste wie sie mit den Kindern schimpfte und mit ihnen lachte.

Vermisste wie sie mit der Hand durch ihr Haar Strich. Er vermisste den vorwurfsvollen Blick, wenn er wieder irgendetwas liegen gelassen hatte. Und sie hinter ihm leise schimpfend aufräumte. 

Er vermisste ihr Lachen und ihre Stimme. 

Er vermisste die gemeinsamen Stunden in der sie sich liebten, redeten oder nur still nebeneinandersaßen.

Aber am meisten vermisste er ihren verständnisvollen Blick. Ein Blick der ihre Liebe zu ihm ausdrückte. 

Vieles hatte er ihr noch sagen wollen und dann war das Ende schnell und unerwartet gekommen. Es blieben ihnen keine Zeit mehr für Worte.

Eine weitere Träne sickerte aus seinem Auge und folgte ihrer Vorgängerin dem Weg über die Wange.

Er kehrte in seiner Erinnerung zurück zu glücklichen Tagen. Sah die Begeisterung seiner Frau, als sich am Anfang jedes Winters die ersten Eisblumen am Fenster bildeten. 

Er bemerkte es nie, aber sie hatte auf diese kunstvollen Gebilde an den Fenstern sehnsüchtig gewartet.

Die Temperatur im Zimmer war noch tiefer gesunken. Der alte Mann störte sich nicht daran. Er sah weiter in das Fenster und wartete.

 

»Sie her, er lächelt«, sagte der Mann. 

»Tatsächlich, na dann ist er wenigstens glücklich gestorben.«, antwortete der andere Mann.

»Aber er ist am Heiligen Abend einsam in seinem Zimmer erfroren, wie kann er dann glücklich gestorben sein?« 

»Ich weiß es nicht, aber sie ihn dir an. Er lächelt so zufrieden, als ob er etwas sehr Schönes gesehen hat.«

»Was kann man denn hier schon Schönes sehen? 

»Nichts, keine Aussicht … nur ein Fenster voller Eisblumen.«